Am selben Mittwoch im Gewerbegebiet, um 17:41 Uhr, schreibt Carsten Hellwig, Geschäftsführer der Firma ALCAR Leichtmetallräder Produktion GmbH, eine E-Mail an Udo Bergmann, der den Fuhrpark, die Stapler und verschiedene Elektronikbauteile des Unternehmens versichert hatte: „Wir mussten heute um ca. 15 Uhr die gesamte Produktion in Neuenrade evakuieren. Die Hönne ist über die Ufer getreten und die Lackabteilung und der Versand sind voll mit Wasser gelaufen. (…) Wir haben mit der Firma Westnetz den Strom komplett abgeschaltet, um somit noch die Produktionsfläche betreten zu können und sämtliche Türen und Fenster manuell zu schließen (…). Viele Straßen im Märkischen Kreis sind nicht mehr befahrbar …“
Die Löschwasserbarrieren, die Mitarbeiter an Rolltoren und Türen angebracht hatten, hielten die Wassermassen nicht ab. „Das Wasser schob sich mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Ritzen“, erzählt Viktor Kluev, Leiter der Lackierabteilung. Er ist seit 23 Jahren bei der Firma und versuchte mit einer Handvoll Männern, das Gebäude zu sichern. „Es hat keine halbe Stunde gedauert, bis die Halle volllief. Das Wasser stand mindestens 60 Zentimeter hoch.“ An den Wänden sind die Spuren noch sichtbar. Die kleine Hönne, deren Quelle nur ein paar Kilometer weiter oben, am Kohlberg, entspringt, hatte in dem Werk eine zerstörerische Kraft entfaltet. 2003, als ALCAR nach Neuenrade umzog, ahnte keiner, dass der unscheinbare Bach hinter dem Firmengelände 18 Jahre später das Lebenswerk der Gründer Günther und Harald Schmidt torpedieren würde.
„Wahnsinn“, schrieb Udo Bergmann am Donnerstag an Carsten Hellwig. „Ich war gestern Abend (…) persönlich vor Ort.“ Er hatte die Policen seines Firmenkunden geprüft, an Ort und Stelle den Schaden grob eingeschätzt und Informationen zum Versicherungsschutz mit der Allianz geklärt. Wann welcher Sachverständige nach Neuenrade entsandt wird, der die Schäden begutachtet und gegebenenfalls eine Vorabzahlung veranlasst, muss abgestimmt werden.
„Die auf dem Firmengelände geparkten und überschwemmten Kfz sind im Rahmen der Teilkasko mitversichert. Die Stapler im Betrieb auch“, schreibt Udo Bergmann in seiner E-Mail. „Falls die Fahrzeuge betroffen sind, bitte Fotos machen. Bitte melden, wenn ich dir weiterhelfen kann.“
Man kennt sich in Neuenrade, Udo Bergmann ist als Inhaber der Agentur Bergmann – Sasse e.K. mit vielen Menschen im Ort per Du. Was passiert ist, geht ihm nah. Doch Bergmann funktioniert – nur so kann er helfen. Gerade jetzt, da seine Kund:innen in Not sind, kommt es auch auf ihn an. Zu Carsten Hellwig hält er per Smartphone Kontakt. Wenigstens dieser Kommunikationsweg ist offen, ansonsten ist der gesamte Betrieb weiterhin ohne Strom.
Udo Bergmann ist ein alter Hase bei der Allianz. 1990 stieg er bei der Agentur Klaus Peter Sasse als Kundenberater ein. Neun Jahre später übernahm er die Geschäfte. Viele der mittelständischen Betriebe aus der Gegend sind in irgendeinem Bereich über Udo Bergmann bei der Allianz versichert. Von Kfz-Versicherungen über Haftpflicht- bis Wohngebäudeversicherungen und der Vermögensanlage hat er alles im Portfolio. Seit mehr als 25 Jahren sponsert die Agentur die „Wallkonzerte“, ein Open-Air-Ereignis auf dem Wall gegenüber der Agentur. Was ein fester kultureller Punkt im Rahmen des Stadtmarketings von Neuenrade ist.
Und im Notfall ist er sofort an Ort und Stelle, wie jetzt, um die Schadensregulierungen anzuschieben.
Am Tag drei nach der Katastrophe betritt Udo Bergmann die Fabrik, um sich einen weiteren Überblick zu verschaffen, jetzt, nachdem das Wasser abgelaufen ist. Die Lüftung funktioniert nicht mehr. Es ist still. Schwarze Elektrokabel winden sich wie Schlangen über den Boden. Sie gehören zu einem Notstromaggregat, das außerhalb der Halle steht, dort, wo an normalen Tagen die Transporter vorfahren, um die Leichtmetallräder zu laden. „Wir hoffen, dass wir es nächste Woche anwerfen können“, sagt Viktor Kluev. „Erst müssen wir alles trockenlegen. 400 Kubikmeter Wasser sind allein in der Lackiererei bereits abgepumpt worden.“
„In den vergangenen 30 Jahren hatten wir solche Wasserstände nicht“, sagte der Sprecher des Warndienstes des kleinen sauerländischen Örtchens Altena. Bei der Lenne könne man sogar von einem Hochwasser sprechen, wie es im Durchschnitt einmal in hundert Jahren auftrete.
„Es kam die Straße heruntergeschossen“, erzählt Birgit Wagner, die mit ihrem Mann Peter die „LST Lackier- und Stanztechnik“ in Altena-Altroggenrahmede betreibt. Es ist eine schmucke Fabrik mit Sheddach, hinter der die kleine Lenne verläuft. Sie hatten um 16 Uhr aus dem Radio erfahren, dass sich ein apokalyptisches Unglück anbahnt. Dann rief ein Nachbar an, sein Keller sei unter Wasser. Als sie in ihrer Firma an der Rahmedestraße ankamen, hatte sich bereits ein See gebildet. „Es ging rasend schnell, die Straße war plötzlich ein reißender Fluss. Überqueren? Das ging nicht mehr. Autos wurden mitgerissen, ganze Bäume schossen herunter.“ Die Wassermassen drückten sich unter dem Rolltor in das Gebäude. „Das schaffen wir nie“, war Birgit Wagners erster Gedanke, als sie und ihr Mann Peter das Rolltor endlich hochschieben konnten und das Ausmaß der Verwüstung sahen: Alles überschwemmt, die Stanzmaschine, die Stahlringe, aus denen Klemmen für Zäune geformt werden, das Holz, mit dem im Winter die 1680 Quadratmeter große Fabrikhalle geheizt wird. 32 Jahre Lebenswerk war innerhalb von einer halben Stunde untergegangen. Als das Wasser nur wenig später abgeflossen war, stapften sie durch knöchelhohen Schlick.
Auf dem Rückweg zu Udo Bergmanns Agentur passieren wir eine Straße, an deren Rändern sich nasse Möbel, Matratzen und Schutt stapeln. Menschen schleppen Gegenstände aus ihren überfluteten Kellern. Wer hier keine Elementarschaden-Versicherung für Gebäude und Hausrat hatte, den kann die Überschwemmung in existenzielle Not stürzen.
Es wird Wochen dauern, bis sich die Menschen in Neuenrade und Altena von ihren Traumata erholt haben. Es gibt Tote zu betrauern und Lebenswerke wiederaufzubauen. Und die Erkenntnis zu gewinnen, dass sich auch ein kleines Rinnsal zu einer brutalen Naturgewalt auswachsen kann.
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Allianz Hochwasser Sommer 2021: Martin Lamberty