Tour de Paris

Straßenrennen
Autos rasen, Bremsen quietschen, Räder rollen. Lkws verbreiten stinkende Abgase. Im Kreisverkehr rund um den Arc de Triomphe, mitten in Paris, steht nur das Bauwerk in der Mitte still, seit 1836 eines der massiven, ikonischen Wahrzeichen von Paris. Denise Schindler, Radsportstar der deutschen Paracycling-Szene, mehrfache Weltmeisterin und Paralympics-Medaillengewinnerin, ist verwirrt. »Ich habe einen echt guten Orientierungssinn«, sagt sie, »aber wo war das noch, dieser coole Fotospot – und aus welcher Richtung bin ich noch mal gekommen?« Sie schiebt ihr rot-schwarzes Bike über die Straße und wischt mit dem Zeigefinger über das Display ihres Handys.
Google Maps soll die Richtung weisen inmitten des Verkehrschaos am Ende der Champs-Élysées, wo Denise Schindler ihre Entdeckungstour startet. Auf den Spuren historischer Radsportereignisse, vorbei an touristischen Must-sees, voller Vorfreude auf die Olympischen und Paralympischen Spiele, die 2024 im Herzen der französischen Hauptstadt stattfinden werden. Statt zu Fuß oder per Metro ist Denise Schindler mit dem Rad unterwegs, einem sportlichen Cityrennrad der Marke BMC, in königsblauem Trikot und schwarzer Radlerhose. Pariser Schick auf die sportliche Tour.

Das Sahnehäubchen von Paris: Mit dem Rad zum Montmartre
Etappe 1 führt vom Arc de Triomphe nach Nordosten, in immer enger und enger werdenden Kurven über jahrhundertealtes Kopfsteinpflaster hinauf – bis zur Sacré Coeur, der strahlend weißen Kirche auf dem Montmartre: Was auf einem Städtetrip eine gute, wenn auch schweißtreibende Alternative zur verstopften Metro oder zu kilometerlangen Fußmärschen ist, wird für die Leistungssportlerin Schindler fast schon zur Wettkampfvorbereitung. Im Sommer 2024 wird das Straßenrennen an der Champs-Élysées starten, wo jeden Sommer die Tour de France endet.
Auf den breiten Boulevards, wo Fans aus aller Welt die Sportler:innen anfeuern werden, gehen heute, an einem für die Jahreszeit zu kühlen Sommertag Geschäftsleute ihrer Wege, Touristen bummeln durch die Straßen. Am Arc de Triomphe drapieren sich stark geschminkte und gestylte Frauen kunstvoll vor dem Bauwerk, während ihre meist männlichen Begleiter den besten Winkel suchen, um sie möglichst vorteilhaft für die sozialen Medien abzulichten. Manchmal bedeutet das, sich mitten im Verkehrschaos auf die Straße zu legen. Für eine Erkundung der Stadt auf eigene Faust braucht es Mut, so scheint es.
Im mehrspurigen Kreisverkehr rund um den Arc de Triomphe fehlen Fahrbahnmarkierungen, über Vorfahrtsregelungen verständigt man sich mit Handzeichen oder Blickkontakt, ständig fahren noch mehr Fahrzeuge rein, während sich mittendrin der Verkehr staut: Hier bestätigen sich alte Vorurteile vom Pariser Verkehr aus der Hölle, der das Autofahren beschwerlich macht und weder Einheimischen noch Besuchern und Besucherinnen so richtig Lust aufs Radfahren macht. Das 8. Arrondissement bildet damit inzwischen eine Ausnahme.
Denn Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, Paris zu einer hundertprozentigen Fahrradstadt zu machen. Mehr als 150 Millionen Euro hat die Regierung bereits in Fahrradwege und -infrastruktur investiert, etwa tausend Kilometer Radwege wurden geschaffen. Die einstige innerstädtische Rennstrecke, die Rue de Rivoli, die von der Bastille zum Louvre und der Place de la Concorde führt, ist inzwischen eine Fahrradhauptstraße – eine weitere Etappe auf Denise Schindlers Tour de Paris.
»Ich bin begeistert«, ruft die Athletin, während sie einen breiten Radweg entlangradelt, der Fahrtwind pustet ihr die langen Haare aus dem Gesicht. Die 37-Jährige strahlt mit der Sonne um die Wette, die sich mittags doch noch blicken lässt. So gut ausgebaute Radwege kenne sie aus keiner anderen Großstadt. In München etwa, wo sie in der Nähe lebt, sei das Radfahren deutlich beschwerlicher und auch gefährlicher, erzählt sie im Vorbeifahren.

Boxenstopp im Kultcafé


Mehrere Ziele vor Augen führen zum Erfolg
Die Para-Athletin ist in Deutschland nicht nur ihren Fans bekannt. Schindler, die Veranstaltungskauffrau gelernt hat und mehrere Jahre für eine Eventfirma arbeitete, bevor sie sich in Vollzeit dem Sport widmete, ist Sprecherin der Athletenkommission des Weltradsportverbands UCI für Paracycling. Sie hält Vorträge zum Thema Inklusion und hat ein Buch zum Thema Resilienz verfasst: »Vom Glück, Pech zu haben. Wie man an einem Schicksalsschlag wachsen kann«.
Ihr Tipp für einen guten Weg durchs Leben? Abends sitzt Denise Schindler bei israelischem Streetfood im Restaurant »SoumSoum« und überlegt. »Mehr als ein Ziel zu haben, ist für mich das Wichtigste«, sagt sie dann und nippt an einem Glas Rosé. »Denn im Leben läuft nicht immer alles nach Plan. Noch einmal bei den Paralympics 2024 zu starten, dass wäre natürlich fantastisch«, sagt sie. Falls es mit der Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen aber nicht klappen sollte, sei das keine Katastrophe. »Ich habe viel erreicht im Leben – und bereite mich langsam auf die Zeit nach meiner aktiven Karriere vor.« Wer sich gezwungen sieht, vom geplanten Weg abzuweichen, braucht immer eine Alternative – am besten mehrere. So lässt sich nicht nur eine Fahrradtour in der Großstadt gut bewältigen.

Am Ende des Tages hat Denise Schindler viele Ziele in der Stadt angesteuert, einen Fahrradtunnel an der Seine entdeckt, an den Tuilerien Espresso getrunken und ist auf der letzten Etappe zurück zum Arc de Triomphe im goldenen Licht der untergehenden Sonne am zäh dahinkriechenden Feierabendverkehr vorbeigeflitzt.
Für den nächsten Tag bleiben ein paar Stopps außerhalb der Route, die sie ausnahmsweise per Taxi ansteuert: das Stade de France, wo einst die Spiele eröffnet wurden, die Gegend rund um die künftigen olympischen und paralympischen Dörfer in Saint-Denis – und das Vélodrome National in der Gemeinde Montigny-le-Bretonneux. 2024 werden hier die olympischen Bahnradwettbewerbe stattfinden. Auch Denise Schindler, die in dieser Disziplin wie auch auf der Straße antritt, könnte dann hier um eine Medaille kämpfen. Heute ist die Halle schwach beleuchtet, die Zuschauerränge sind leer. Lange blickt Denise Schindler auf die hölzerne, von den vielen Rennen wie glatt polierte Bahn. Eine Träne rollt ihre Wange hinab. »Das hätte ich jetzt nicht gedacht«, kommentiert sie lapidar und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Hier, wird sie gleich sagen, erinnere sie sich an die Kämpfe, die sie während unzähliger Rennen mit sich ausgetragen hat, die Krankheiten und Niederlagen, die sie hinnehmen musste – an »die ganzen Herausforderungen, die man schon bewältigt hat«. In diesem Moment aber schweigt sie. Vielleicht hat sie heute eines ihrer Ziele erreicht.
Mit dem Fahrrad auf Entdeckungstour

- Vom Arc de Triomphe, dem mehrspurigen Kreisverkehr, geht es entlang der mehrspurigen Boulevards steil nach Nordosten.
- In immer enger werdenden Kurven fährt man über jahrhundertealtes Kopfsteinpflaster hinauf zur Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre.
- Auf dem Rückweg in die pulsierende Stadt lohnt sich ein Abstecher zum Canal Saint-Martin. Ab der U-Bahn-Station Jaurès fährt man ca. 1 Kilometer gemütlich und verkehrsberuhigt am Wasser entlang, bevor man links zum Père-Lachaise abbiegt, dem Friedhof mit den Gräbern berühmter Persönlichkeiten, unter anderem des Radrennfahrers Laurent Fignon.
- Für eine kurze Verschnaufpause bietet sich das Café »Steel Cyclewear« an, ein Treffpunkt für Rad- und Kaffeeliebhaber.
- Paris hat in den vergangenen Jahren in den Ausbau von Radwegen investiert, so auch in unsere Tourstrecke, der Rue de Rivoli, die von der Bastille, über den Louvre bis zur Place de la Concorde führt.
- Die Tour endet am Arc de Triomphe.
- Ebenfalls einen Besuch wert: Eine halbe Autostunde entfernt liegt das Vélodrome National, eine große Mehrzweckhalle mit Radrennbahn, ein Austragungsort der Olympischen und Paralympischen Spiele 2024.
- Etwas außerhalb des Stadtzentrums liegt das Stade de France, in dem die Eröffnungs- und die Abschlussfeier der Olympischen und Paralympischen Spiele stattfinden.