Fachkräfte – dringend gesucht

3. Dezember 2018 – Text: Michael Cornelius
Der Arbeits­markt hat sich gedreht. Heute müssen sich Unter­nehmen bewerben. Mit Kita­plätzen, flexiblen Arbeits­zeiten, Weiter­bildung und betrieblicher Kranken­versicherung kämpfen die Firmen um die besten Talente. Mit Erfolg gelingt das beispielsweise einer Technologieberatung aus München
Wanted: Fachkräfte. Wie Unternehmen mit attraktiven Angeboten um sie werben. Fotos: Dieter Mayr

Kopfgeldjäger hätten hier ein leichtes Spiel. Eine weiße Wendeltreppe führt nach oben zu einer Tür mit der Aufschrift »Vision Lab«. Dahinter, im luftigen Großraumloft, sitzen die Gesuchten, für die Headhunter satte Erfolgsprämien kassieren würden. Die Mitarbeiter des Technologieberaters Zielpuls gehören zu der meistgesuchten Spezies auf dem Arbeitsmarkt, den sogenannten MINTs. Die Abkürzung steht für Hochqualifizierte aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Mehr als 9,5 Millionen Menschen in MINT-Berufen arbeiten an der fortschreitenden Digitalisierung des Lebens. Der Bedarf ist riesig, doch das Angebot an Talenten knapp.

Ein Hauch von Silicon Valley weht durch die Firmenzentrale im Münchner Norden. Pastellfarbene Sitzgruppen und Sofaecken laden zum Verweilen ein, es gibt frisches Obst, eine Snackbar und besten Espresso. Es sieht nicht nach ­Arbeit aus, eher nach Berufung. Ein Architekturbüro hat die lockere Atmosphäre gestaltet, sie soll Mitarbeiter beflügeln. »Ich habe mich hier beworben, weil ich das Team so toll fand«, sagt Gina Frackmann. Die Beraterin wechselte vor drei Monaten von einem Praktikum bei BMW direkt zu Zielpuls.

Geschäftsführer Markus Frey nennt seine Angestellten »Diamanten«. Er kennt die Sorgen vieler Arbeitgeber, die händeringend nach gutem Personal suchen. »Es wird immer schwieriger, diese Diamanten zu finden«, sagt er. »Wir bieten deshalb gezielt Mehrwert an.« Flexible Arbeitszeiten, Hilfe bei der Suche nach einem Kitaplatz und gemeinsames Grillen auf der Dachterrasse des Unternehmens sind nur ein Teil. »Wir tun alles, damit sich die Mitarbeiter wohlfühlen. Wer unbeschwert seinem Job nachgehen kann, der kann leichter Spitzenleistungen erbringen.« Umfangreiche Bonusleistungen, ein Mobilitätszuschuss, Überstundenvergütung – die Liste der Annehmlichkeiten ist lang. Zum Rundum-sorglos-Paket gehört auch die Absicherung im Krankheitsfall. »Standard für alle Karrierestufen ist die betriebliche Krankenversicherung mit den ­Zuzahlungen für Zahnvorsorge und die Reiseversicherung«, sagt Melanie Richter von der Personalabteilung. Wer auf der Karriereleiter nach oben klettert, erhält weitere Bausteine. »Das kommt sehr gut an.« Geschäftsführer Frey sagt: »Die bKV passt einfach zu unserem Selbstbild. Wenn Vorsorge, dann umfassend. Das sind uns unsere Mitarbeiter wert.«

Moritz Grawunder hat zum Thema Hubschrauberaerodynamik promoviert und ist seit eineinhalb Jahren als Projektmanager im Unternehmen. Er sagt: »Solche Mehrwerte sind die Grundvoraussetzung, um gute Talente zu bekommen.« Als er vor einem Jahr Vater wurde, hat das seiner Karriere nicht geschadet. Im Gegenteil. »Ich habe die Leitung eines Automobilprojekts übernommen. Bei der Kinderbetreuung werde ich unterstützt, und es ist kein Problem, wenn ich flexibel vom Home Office aus arbeite.«

»Mitarbeiterzufriedenheit und gute Personalarbeit sind der Schlüssel«
Sibylle Stippler, Institut der Deut­schen Wirtschaft

Sein Kollege Andreas Werthan ist seit zehn Jahren im Unternehmen. Der Mechatroniker engagiert sich in der firmeneigenen Weiterbildungsakademie. »Ein offener und respektvoller Umgang ist Teil unserer Unternehmenskultur. Das fördern wir durch Coachings.« Wer nur stur seinen Job machen will, ist hier fehl am Platz. Auch Senior Projektmanager Stefan Lehner hilft jungen Mitarbeitern, sich weiterzuentwickeln. »Wir brauchen neugierige, offene Menschen, die die Fähigkeit haben, über den Tellerrand zu blicken und die in Teams fachübergreifend zusammenarbeiten können. Bei uns arbeiten zum Beispiel Chemiker, die auch andere Sachen gut machen können.« Dieses »crossfunktionale Denken« gelte es zu fördern, schon von Kindesbeinen an. »Deutschland ist eigentlich ein reiches Land. Die größte Ressource, die wir haben, sind die Köpfe«, sagt Lehner.

Bei der Suche nach Talenten geht die mittelständische Unternehmensberatung mit weltweit 160 Mitarbeitern und Standorten in Wolfsburg, Shanghai und Peking kreativ vor. Gebraucht werden Spezialisten für autonomes Fahren, Digitalisierung und agile Entwicklung. »Es reicht nicht mehr, Kandidaten bei Xing anzuschreiben«, sagt Recruitingexpertin Richter. »Wir gehen auf Messen, an Universitäten und bieten Workshops für Studenten an.« Auch Kopfgeld wird bezahlt. Mitarbeiter, die einen Bewerber empfehlen, der später auch eingestellt wird, erhalten eine Prämie in Höhe von 2500 Euro.

»Weiterempfehlungen sind der erfolgreichste Besetzungsweg in Deutschland«, bestätigt Sibylle Stippler vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln (IW). »Die Kandidaten sind meist ein Volltreffer. Denn begeisterte Mitarbeiter wissen am besten, ob jemand in den Betrieb passt.« Gerade hat ihr Institut eine alarmierende Studie vorgelegt. Demnach fehlen auf dem Arbeitsmarkt aktuell rund 440.000 qualifizierte Fachkräfte (Stand: 2018). Könnten Unternehmen ihre offenen Stellen besetzen, würde die Wirtschaftsleistung in Deutschland um bis zu 0,9 Prozent oder rund 30 Milliarden Euro höher ausfallen. Der Kampf ums Personal ist zur Überlebensfrage geworden.

»Der Arbeitsmarkt hat sich gedreht, die Bewerber suchen sich heutzutage die Jobs aus, und die Firmen müssen sich als attraktiver Arbeitgeber positionieren«, sagt Sibylle Stippler, die beim IW das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (KOFA) betreut. Wer überleben will, sollte schnell umdenken. »Der Schlüssel ist gute Personalarbeit.« Die renommierte Personalökonomin berät kleine und mittlere Unternehmen dabei, sich ganz neu aufzustellen. »Viele müssen erst lernen, den Mitarbeiter in den Mittelpunkt zu stellen. Manche haben noch nicht mal eine Webseite und geben Stellenanzeigen auf wie vor 20 Jahren.«

Stippler leistet Basisarbeit. 60 Prozent der deutschen Betriebe sehen den Fachkräftemangel als Geschäftsrisiko Nummer 1, so der jüngste Arbeitsmarktreport des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Demnach können insgesamt rund 1,6 Millionen Stellen in Deutschland längerfristig nicht besetzt werden.

»Wenn Vorsorge, dann richtig. Das sind uns unsere Mitarbeiter wert«
Markus Frey, Geschäftsführer Zielpuls GmbH

Auch in nicht-akademischen Berufen ist die Lage nicht besser. Der Präsident Zentralver- band des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer, sagt: »Wir haben volle Auftragsbücher. Manche Betriebe können inzwischen aber keine weiteren Aufträge mehr annehmen, weil ihnen schlicht das Personal fehlt, um diese Aufträge abzuarbeiten.« Mehr als 40 Prozent der Handwerksbetriebe suchen Fachkräfte sowie Auszubildende.

»Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, sagt Stippler. Es gibt immer noch viel Potenzial auf dem Arbeitsmarkt. »Wir haben in Deutschland unglaublich hoch qualifizierte Frauen, in unglaublich niedriger Teilzeitquote – mit einem europaweit unterdurchschnittlichen Volumen von nicht mal 20 Stunden. Wenn man es schafft, für diese Frauen die passende Arbeitsumgebung zu schaffen, mit Unterstützung bei der Kinderbetreuung, Vertrauensarbeitszeit und Vorsorgeleistungen, hätten Unternehmen auf einen Schlag viele Arbeitsstunden eingekauft.« Auch Rentner könnte man reaktivieren. »Die Silver Worker, die sich mit 60 in den Vorruhestand verabschiedet haben, sind meist noch fit.« Auch Leute mit schlechten Zeugnissen, die bei der Bewerbung durchs Raster gefallen sind, sollten eine Chance bekommen. »Häufig sind diese Leute praktisch begabt«, so Stippler.

Der Wettbewerb um gute Mitarbeiter ähnelt mitunter einem Schönheitswettbewerb. Die attraktivste Firma gewinnt. Arbeitsmarktforscher Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sieht hier Handlungsbedarf. »Es kommt vor allem darauf an, dass sich die Leute im Unternehmen wohlfühlen. Ich sage immer, jede Person, die einen Betrieb nicht verlässt, ist eine Person, die man nicht ersetzen muss. Alles, was die Bindung an den Arbeitgeber fördert, kann Engpässen vorbeugen. Auch beim Recruiting muss man verstärkt auf die Personen zugehen und Angebote machen.«

Die betriebliche Altersvorsorge und die betriebliche Krankenversicherung gehören laut GfK-Studie zu den beliebtesten Zusatzleistungen, die Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anbieten können. Erstaunlich: Dienstwagen (4,5 Prozent) oder ein Handy (2 Prozent) bekamen deutlich weniger Punkte

Mit Personalzusatzleistungen können Arbeitgeber deutlich an Attraktivität gewinnen. Sie stehen bei Mitarbeitern hoch im Kurs und lassen sich deshalb hervorragend zur Personalgewinnung und -bindung einsetzen. Gleichzeitig sind sie für Mitarbeiter wichtiger als zum Beispiel das Image eines Unternehmens. Dies zeigt eine Studie der GfK im Auftrag der Allianz. Allerdings nutzen bisher nur 16 Prozent der Arbeitgeber solche Benefits gezielt im Recruiting. »Die meisten Unternehmen setzen Personalzusatzleistungen in erster Linie zur Mitarbeiterbindung und -motivation ein – und sind sich gar nicht im Klaren darüber, welchen Trumpf sie damit auch beim Recruiting ausspielen könnten«, sagt Jan Esser, Vorstand Firmengeschäft der Allianz Privaten Krankenversicherung. Dabei sind nicht alle »Extras vom Chef« gleich stark gefragt: Die Absicherung im Alter oder zusätzliche Gesundheitsleistungen sind den meisten Arbeitnehmern viel wichtiger als etwa ein Dienstwagen oder ein Handy. »An genau dieser Stelle können Unternehmen ansetzen und mit der richtigen Zusatzleistung die Attraktivität für Mitarbeiter kostengünstig steigern«, sagt Jan Esser. Die bKV gehört zu den drei beliebtesten Zusatzleistungen. Mehr als 90 Prozent aller befragten Mitarbeiter sind von einer bKV so begeistert, dass sie davon Freunden und Bekannten erzählen. Das wirbt zugleich für das Image. Die Fluktuation ist in Unternehmen mit bKV spürbar geringer, und die Mitarbeiter sind zufriedener mit ihrem Arbeitgeber.

Und was bringt die Zukunft? Der demografische Wandel wird den Fachkräftemangel noch weiter verschärfen. Im Jahr 2030 könnten bis zu drei Millionen Arbeitskräfte in Deutschland fehlen. »Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in nächster Zeit verstärkt in Rente«, so Kubis. »Unsere Simulationen zeigen, dass – wenn wir nicht gegensteuern – an vielen Stellen die Personalreserven deutlich knapper werden. Deshalb wäre es wichtig, rechtzeitig die Weichen zu stellen und in Bildung und Gesundheitsvorsorge zu investieren.«

So gesehen macht die Firma Zielpuls alles richtig: Sie investiert in ihr Personal. Falls sich tatsächlich mal ein Headhunter in die schönen Büroräume verirrt, er würde wohl abblitzen. Stefan Lehner, der Spezialist für die Mobilität der Zukunft, sagt: »Ich glaube, das Gesamtpaket an Teamgeist, Kreativität und Benefits hier ist schwer zu toppen.«

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