Uber yourself before you get Kodaked“ – dieser Satz entwickelt sich derzeit zum geflügelten Wort. Was scheinbar ironisch und leichtfüßig daherkommt, enthält eine brutale Wahrheit. Wir leben in einer digitalen Welt, deren Spielregeln wir nicht nur begreifen, sondern beherrschen müssen. Sonst ergeht es einem wie dem Erfinder der Digitalkamera, der es nicht geschafft hat, Nutzen aus seiner Erfindung zu schlagen und den die Digitalisierung letztlich ruiniert hat – Ironie des Schicksals.
Uber ist das weltgrößte Taxiunternehmen, ohne ein einziges Fahrzeug zu besitzen. Wer nach einer Urlaubsunterkunft sucht, tut dies bei Airbnb – einer Online-Plattform, die nicht eine Immobilie besitzt. Und wer eine Versicherung sucht, tut dies heute womöglich im Netz, auf Vergleicherplattformen oder beim Online-Makler. Der Versicherungsbranche wird häufig nachgesagt, dass sie sehr behäbig sei, dass sie die Digitalisierung verschlafen habe. Ein Tanker im Weltmeer, der von Schnellbooten überholt wird und nicht bemerkt, dass ein Sturm aufzieht. Doch das stimmt so nicht.
Ja, es gibt neue Wettbewerber. Auf den Versicherungsmarkt drängen Start-ups, die Zahl der Insurtechs hat sich in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. Große Umwälzungen in der Branche sind dadurch jedoch bislang ausgeblieben. Wer eine Versicherung abschließt, setzt gerade bei langfristigen Verträgen lieber auf bewährte Marken, auf Partner, die bereits millionenfach bewiesen haben, dass Kunden auf sie zählen können. Zwar informieren sich Kunden im Internet über Versicherungen und vergleichen Preise, abgeschlossen wird aber nach wie vor in 90 Prozent der Fälle offline, beim Vertreter oder beim Makler. Das liegt daran, dass Versicherungen sensible Bereiche betreffen, bei denen individuelle Beratung einen besonderen Wert darstellt. Eine Rentenversicherung ist eben kein Paar Schuhe. Was die Kunden jedoch auch von ihrem Versicherer erwarten, sind bester Service und reibungslose digitale Prozesse.
Für Traditionsunternehmen stellt sich nun die Frage: Was machen Start-ups und Tech-Companies anders? Gibt es Methoden, die sich übertragen lassen? Ja! Auch in einem Großunternehmen lässt es sich durchaus arbeiten wie im Start-up. Wer jetzt an Großraumbüros denkt, an bunte Sofas und eine Tischtennisplatte, denkt nicht falsch. Doch darum geht es nicht. Dreh- und Angelpunkt ist der Kunde.
Alle agilen Arbeitsmethoden zielen darauf ab, den Kunden zu verstehen und bessere Produkte und Services für ihn zu entwickeln. Dafür werden mehrere Hebel eingesetzt, von Customer Experience bis zur agilen Softwareentwicklung. Am Anfang steht eine gute Idee – etwa für eine neue mobile Lösung für unsere Kunden. Dann bauen wir ein sogenanntes Minimum Viable Product, ein minimal funktionsfähiges Produkt, und lassen es von Kunden testen. Es geht darum, dem Kunden zu liefern, was er will und braucht. Das finden wir heraus, indem wir uns schon im Frühstadium einer Idee Kundenfeedback holen. Produkte werden so rund um die Kunden gebaut. Ihre Rückmeldungen fließen in die weitere Entwicklung ein. Das Produkt ändert sich stetig, bis es den Kundenanforderungen optimal entspricht. Gearbeitet wird ressortübergreifend – alle, die zum Erfolg des Produkts beitragen können, sitzen in einem Raum – wir sprechen von Co-Lokation. Es werden agile Teams gebildet, die wie kleine Unternehmen arbeiten.
Das ist neu. Und es erfordert ein radikales Umdenken bei Führungskräften. Ihre Aufgabe ist es, eine Unternehmenskultur zu fördern, in der Experimentieren nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht ist. Aus Mitarbeitern sollen „Entrepreneure“ werden, die nicht in Boxen denken, sondern die sich durch die Bereitschaft auszeichnen, Verantwortung zu übernehmen und durch die Fähigkeit, Innovationen hervorzubringen und voranzutreiben. Motivierte Mitarbeiter sind der Motor eines Unternehmens.
Wer innovative Anwendungen entwickeln will, sollte sich daher nicht länger auf das Wasserfallmodell versteifen, bei dem die eine Phase auf dem Ergebnis der vorhergehenden aufbaut, die jeweils von unterschiedlichen Einheiten oder externen Dienstleistern verantwortet werden. Es gibt sicherlich Projekte, bei denen dieses lineare Modell und die Beschäftigung von Dienstleistern absolut sinnvoll sind. Doch es gibt auch Themen, bei denen es wichtig ist, dass die Verantwortung für alle Entwicklungsschritte in einem Team bleibt, damit Prozesse für den Kunden aus einem Guss gestaltet werden können. Softwareentwicklung gehört dabei bei Versicherern zunehmend zu den Kernkompetenzen. Es ist wichtig, IT-Experten im eigenen Haus zu haben. Doch es geht nicht darum, alles selbst zu machen: Partnerschaften mit Technologiefirmen sind eine gute Möglichkeit, um die Innovationsgeschwindigkeit zu erhöhen. Die Verantwortung – und die Kernkompetenz – müssen im Unternehmen liegen.
Wenn ein Unternehmen – egal wie groß, egal wie alt – innovative Produkte entwickeln will, dann sollte es eine Kultur etablieren, in der Mitarbeiter ihre Ideen einbringen, entwickeln und Verantwortung übernehmen – und in der Manager ihren Mitarbeitern Raum geben und hinter ihnen stehen, wenn es darum geht, Visionen zu verfolgen. Nicht jede Idee wird in einem tragfähigen Geschäftsmodell enden. Manche Idee wird man auch begraben – und daraus für die Zukunft lernen. Nicht jede Idee kann Erfolg haben. Im Scheitern die Chance zu sehen, es beim nächsten Projekt besser zu machen – dieser Gedanke muss in vielen Köpfen erst noch ankommen.
Bei uns in der Allianz Deutschland erleben wir gerade, was passiert, wenn das sogenannte Lean-Startup-Konzept Einzug im Großunternehmen hält. Bis zu 240 Mitarbeiter finden derzeit Platz in den beiden sogenannten Agile Training Centers in München und Stuttgart, in denen neue, innovative Produkte und Services entstehen. Wir etablieren die agile Arbeitsweise und bauen das Know-how der Mitarbeiter noch weiter aus. Im nächsten Schritt sollen die agilen Methoden im Konzern weiter verankert werden. Vor allem aber wollen wir unsere Prozesse aus Sicht des Kunden neu denken und führend im Bereich digitaler Versicherungsdienstleistungen sein.
Der Gastbeitrag von Jan Malmendier erschien in gekürzter Form am 10. Juni 2017 in der Zeitschrift "Euro am Sonntag".
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