Neuanfang in Norwegen

Auf den Hund gekommen

15. März 2018 – Text: Matthias Oden
Eigentlich hatte Yvonne Hofschneider alles: Geld, Karriere, eine sichere Zukunft. Trotzdem entschied sie sich für ein neues Leben – bei einem Husky­renn­team in Norwegen.
Glückssuche im Norden: Yvonne Hofschneider hat ihren Kanzlei-Job aufgegeben, um in Norwegen mit Huskys zu arbeiten. Fotos: Yvonne Hofschneider

Sie steht jetzt früher auf als in ihrem alten Leben. Draußen ist es dann dunkel, außer in den kurzen Sommern. Manchmal kann sie bereits die Hunde hören. Früher hätte sie zum Blackberry gegriffen, um die ersten, ungeduldig wartenden E-Mails zu beantworten, hier gilt ihr erster Gedanke dem Thermometer und der Frage, ob sie nicht lieber doch ein Paar Socken mehr anziehen sollte. Nachdem sie in ihre Kleider geschlüpft ist, macht sie die Tür auf, und Luft, kälter als Eis, klirrt ihr entgegen. Yvonne Hofschneider atmet dann tief durch den Schal ein und geht hinaus in ihr neues Leben. Ihr Rudel wartet schon auf sie.

Selbstverwirklichung, Freiheit, raus aus dem Hamsterrad – in Millionen Köpfen wird dieser Traum jeden Tag aufs Neue geträumt. Und beiseitegeschoben, wenn es am nächsten Tag von vorne losgeht: ein ewiges Eigentlich-müsste-man-doch-Mal, das den grauen Alltag zumindest ein bisschen schönfärbt; das Gedankenspiel als Ersatz und Trostpflaster. Yvonne Hofschneider hat das nicht gereicht. Sie hat den Traum umgesetzt in die Tat. In Norwegen, bei minus 30 Grad im Winter und auf den Kufen eines Hundeschlittens. Als sogenannter Doghandler für ein Huskyrennteam.

Ändern, was stört, kann ganz einfach sein

Hofschneider hatte, wie man so schön sagt, alles: einen gut bezahlten Job mit handfesten, glänzenden Karriereaussichten, eine tolle Wohnung in München-Bogenhausen, eine Beziehung, die ihr Halt gab. 2014 gab sie alles auf und kehrte ihrem alten Leben den Rücken. Der Grund für diesen radikalen Schritt war eigentlich ganz einfach: Das, was sie hatte, war nicht das, was sie wollte. Also ging sie los, um das zu ändern. „Das ist doch ganz naheliegend“, sagt sie.

Der Weg zu diesem „Naheliegend“ allerdings war ein langer, ein schrittweises Herantasten an die große Entscheidung. Und eigentlich begann er bereits in Hofschneiders Kindheit. 1984 wird sie in Berlin geboren, zieht später mit ihren Eltern nach Thüringen. Immer mit dabei: Schäferhund Dax. Bis er abgegeben werden muss, weil der Vater auf Montage fährt. „Ein halbes Jahr lang habe ich fast täglich geweint.“

Bis der Vater eines Tages mit Rex, einem Schäferhundmischlings-Welpen, vor der Tür steht. Als Hofschneider für das Studium wieder nach Berlin zieht, bleibt Rex aus Platzgründen in Thüringen. „Aber der Wunsch, einen Hund zu haben, war immer da.“ Er wird sie nicht mehr loslassen.

Sie studiert Jura, das Examen schließt sie mit Bestnoten ab. Hofschneider will Richterin werden, merkt jedoch, dass sie die Arbeit in der Staatsanwaltschaft nicht ausfüllt. Sie hat bereits Kanzleierfahrung und ist eine deutlich höhere Taktung gewohnt. Ihr Tagespensum arbeitet sie in ein paar Stunden ab, dann hat sie nichts mehr zu tun. „Jeden Tag die Zeit totschlagen zu müssen, konnte ich mir nicht vorstellen“, sagt sie – und kündigt. Und da zeigt sich das erste Mal jene Radikalität, mit der Hofschneider existenzielle Fragen angeht: Wenn die Umstände nicht so sind, wie sie sich das vorstellt, dann sucht sie sich andere Umstände. Auch wenn das heißt, Lebensentwürfe komplett aufzugeben.

Irgend­wann steht fest: „Ich möchte gehen.“

Sie geht zurück in die Privatwirtschaft, wieder zu ihrem alten Arbeitgeber in München, einer der führenden Wirtschaftskanzleien Europas. Auf ihrem Tisch liegen keine Verkehrsrechtsakten mehr, sondern Korruptions- und Hinterziehungsfälle. Sie verdient gut, viel besser als im Staatsdienst, „aber“, sagt sie, „Geld war mir noch nie wichtig.“ Zur Ruhe kommt sie nicht: Den Gerichtssaal sieht sie kaum noch, dabei sind es gerade Gerichtstage, die sie an ihrem Beruf am meisten schätzt. Und für einen Hund, einen großen Hund, und nur so einer kommt infrage, ist immer noch kein Raum in ihrem Leben. „So einer kann ja nicht den ganzen Tag im Büro sein.“ Hofschneider steht mitten im Leben, aber irgendwie steht sie auch neben sich.

So kommt schließlich Skandinavien ins Spiel. Im Urlaub war sie schon ein paarmal in Finnland, auf Schlittentour. Sie hat dort aufgetankt: den ganzen Tag unter Hunden. Schließlich aber merkt sie, dass das Leben jenseits des Polarkreises mehr ist als ein Urlaubserlebnis, von dem sie im Alltag zehren kann. Es ist eine Alternative.

Das passiert nicht von heute auf morgen. „Es war schon länger in mir drin“, sagt sie. Auch als die Frage offen im Raum steht, überstürzt sie nichts. Sie spricht mit den Leuten ihrer Urlaubsfarm über die Möglichkeit, dort zu arbeiten. Mit den Eltern, dem Freund. Leicht macht sie es sich nicht; sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, ist die Erste, die studiert hat – und das jetzt einfach aufgeben? Schwierig, Gewissensbisse plagen sie. Aber sie kämpft sich da durch. „Irgendwann stand es einfach fest: Ich möchte gehen.“

Sie schreibt die Huskyfarm an: Ja, sie haben Interesse. Sie kündigt: Ja, sie meint das ernst. Sie gibt ihre Wohnung auf: Ja, sie zieht wirklich nach Äkäskero, Finnland.

Natürlich gibt es Erklärungsbedarf. „Es hat ja keiner verstanden, warum man das alles hinschmeißen will, um Hunde zu streicheln.“ Keiner, das sind vor allem ihre Berufskollegen. Die Eltern haben genug Einfühlungsvermögen, um zu begreifen, was in ihrer Tochter vorgeht. Auch die Freunde können ihre Entscheidung irgendwann nachvollziehen, irgendwie. Ihr damaliger Chef aber wird ihr bei Besuchen in Deutschland immer wieder einen Job anbieten. „Wahrscheinlich kann er das wirklich nicht verstehen“, sagt sie, „so etwas gibt es in seiner Welt einfach nicht.“

Irgendwann sind alle Gespräche geführt, alle Vorbereitungen abgeschlossen, und dann ist es so weit. Im Herbst 2014 fängt Yvonne Hofschneider ihr neues Leben an.

Das Schwierigste ist die Kälte. Sie ist den ganzen Tag draußen bei den Hunden, ständig hat sie durchgefrorene Hände und Füße. Ansonsten ist endlich alles, wie es sein soll. Dafür zahlt sie einen hohen Preis: Ihre Beziehung zerbricht, die Lebensentwürfe der beiden passen nicht mehr zusammen, dazu kommt die Entfernung. Arbeit hilft, und Arbeit gibt es viel: Hofschneider ist Guide für die Touristen, hilft bei der Verwaltung mit und beginnt, als Doghandler im Huskyrennteam der Farm Erfahrung zu sammeln.

Ein Job, bei dem sie drauf­zahlt

Und 2017, als in Äkäskero die Verwaltung überhand- und die Freude abnimmt, geht sie wieder. Dieses Mal nach Norwegen, nach Grimsbu, einem Nest tief im Hinterland an einem Fluss und einer Landstraße, umgeben von bewaldeten Bergketten. Keine Touristen mehr, nur noch Hunde. Denn hier steigt sie voll ein in die skandinavische Huskyrennen-Szene.

Es ist ein merkwürdiger Sport. Einer, der kaum Zuschauer oder TV-Übertragungen kennt. Die Rennen sind 600, 1.000 oder noch mehr Kilometer lang und dauern mehrere Tage – da gibt es kaum Gelegenheiten für Fantribünen. Die meiste Zeit über sind die Fahrer ganz allein auf ihrem Schlitten; Konkurrenten und Doghandler treffen sie allenfalls mal an den Checkpoints, wenn sie Pause machen müssen, um die Hunde zu schonen. Doghandler sind in einem Rennstall für alles zuständig bis aufs eigentliche Rennenfahren. Sie sind die Renncrew, trainieren die Hunde, fahren jeden Tag Dutzende Kilometer mit ihnen, ziehen sie auf, bringen ihnen die Kommandos bei. Füttern sie, erziehen sie, spielen mit ihnen. Hofschneider kümmert sich um 47 Huskys – Welpen, die eigentlichen Rennhunde, die Alten, die nicht mehr vor dem Schlitten laufen. Lange Tage sind das, „so lang wie in einer Großkanzlei“, manchmal länger. Bei jedem Wetter draußen – und vor allem: ehrenamtlich. Kost und Logis gibt es, mehr nicht. Alles andere, Kleidung, Ausrüstung, muss sie selbst finanzieren, und das geht ins Geld. Hofschneider hat einen Job, der sie jeden Monat ärmer macht.

Ganz fair ist das nicht, findet sie selbst. „Ich zahle dafür, dass ich jemandem helfe, seinen Traum zu verwirklichen.“ Aber so funktioniert dieser Sport, und sie wird ihn nicht ändern. Ist das ein bisschen verrückt? Wahrscheinlich schon, sagt sie, aber darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, das zu machen, was man machen will. Das ist, was zählt. Ihre Entscheidung hat sie nie bereut.

Mut ist es nur beim Blick zurück

Und erst im Nachhinein, beim Blick zurück, versteht sie, weshalb andere ihren Schritt für radikal oder mutig halten. Für sie selbst waren das nie Begriffe, in denen sie gedacht hat, „für mich lag das einfach auf der Hand“. Hofschneider teilt ihr Leben nicht in ein Davor und ein Danach. Beides, Jura und Huskys, gehört für sie zusammen, keines will sie missen. „Ohne mein Studium hätte ich mir den ersten Urlaub in Finnland nie leisten können“, sagt sie, und ohne den wäre sie heute nicht in Grimsbu. „Es war auch nicht so, dass in meinem Beruf alles schlecht war, gar nicht.“ Aber wenn sie heute über sich spricht, dann immer auch mit der Absicht, eine andere Möglichkeit aufzuzeigen. „Damit die Leute sehen, dass es mehr gibt als nur den geraden Weg.“

Eine Rückkehr nach Deutschland wird es für sie nicht geben, sagt sie. Natürlich besucht sie noch Eltern und Freunde, aber inzwischen fühlt sie sich fremd in der alten Heimat. Hier oben ist das Leben echter, und hier hat sie auch ihre neue Liebe getroffen, einen Schweizer, den es aus denselben Gründen rauszog wie sie. Beiden ist klar, „dass wir uns unseren Job nicht ewig leisten werden können.“ Aber das Leben mit den Hunden aufzugeben, kommt nicht infrage. Eine eigene Huskyfarm, das wäre was. Mit einem Tourenangebot, das die Bedürfnisse der Hunde in den Vordergrund stellt, nicht die Erlebnisjagd von Touristen, die nur mal für ein paar Stunden auf dem Schlitten stehen wollen. Beide wissen, dass das schwer ist, dass es dafür Kapital braucht. Kapital, das sie gerade aufbrauchen, mit jedem Tag, den sie länger Doghandler bleiben. „Das treibt uns schon um“, sagt Hofschneider.

Dass sie trotzdem gelassen bleibt und optimistisch, dürfte viel mit der Selbstsicherheit zu tun haben, die ein Weg mit sich bringt, der so gewunden ist wie Hofschneiders. Sie weiß, was auch immer kommen mag, wird am Ende etwas sein, das sie bejahen kann. Etwas, das sie wirklich will. Denn alles andere wäre wieder nur eine weitere Zwischenstation. Jedenfalls für eine wie sie.

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