Seit einigen Monaten sitzt morgens ein kleines Kind am Frühstückstisch, welches noch nicht allein essen kann, gelegentlich, insbesondere wenn man drei oder vier Gläschen Erdbeer in Apfelmus in seinen breiten, zahnlosen Mund hineingelöffelt hat, einen schwernassen Rülpser über den Tisch schickt, mit rudernden Armbewegungen Kaffeetassen vom Tisch fegt und karmesinroten Kopfes Windeln füllt, während die anderen Marmeladentoast essen.
„Du bist ekelhaft und bösartig“, sagt Antje leise. „Wie kannst du so widerwärtig über ein kleines Kind schreiben!?“ „Ich liebe alle Kinder. Aber ich liebe auch meinen Schlaf.“ „Schlaf?“, fragt Antje und wendet den Blick ihrer rot geränderten Augen nach innen. „Was ist Schlaf?“ Ich gehe zum Regal und entnehme ihm ein Lexikon. „Schlaf, Johannes“, lese ich, „dt. Schriftsteller, geboren in Querfurt, 1882, gestorben 1941, auch in Querfurt. Hat mit A. Holz unter dem gemeinsamen Pseudonym Bjarne Peter Holmsen den konsequenten Naturalismus begründet. War nervenkrank, Aufenthalt in verschiedenen Heilanstalten.“ Mit letzter Kraft versuche ich, das Lexikon ins Regal zurückzustellen. „Nervenkrank, Heilanstalt“, wiederholt Antje, „holmsen, eine ganze Nacht lang holmsen, nicht aufwachen, 24 Stunden lang nichts hören und durchholmsen, nicht aufwachen.“
„Warumschläftdaskindnichtschläftnichtschläftnicht?“ Schnuller aus dem Mund gefallen? Gier nach Fencheltee? Oder ist es hochintelligent? Hochintelligente Kinder schlafen besonders wenig, bloß zweidreiviertel Stunden pro Nacht, sie brauchen einfach nicht mehr, stand mal in der Zeitung. So machen sie ihre Eltern fertig. Ich bin blöd, ich muss viel schlafen: Antje ist auch blöd, muss auch viel schlafen. Wahrscheinlich weiß das Kind längst, dass es entsetzlich dumme Eltern hat, und quält sie nun in seiner Wut: Menschen immer wieder aufwecken, sobald sie gerade in Tiefschlaf gefallen sind und den ersten Traum träumen. Irgendwann wird man nie mehr schlafen können, es einfach verlernt haben. Oder, falls man schläft, Albträume haben von ewiger Schlaflosigkeit.
Morgens beim Frühstück Streit mit Antje, wer noch müder ist. Ich: Bin um elf und um Mitternacht und um zwei und um drei aufgestanden, schrecklich. Sie: Ja, aber gehört hast du nicht, was um halb elf, halb zwölf, halb zwei, halb vier war. Noch viel schrecklicher! Ich (manchmal lüge ich und sage, ich hätte überhaupt nicht geschlafen, obwohl ich doch geschlafen habe, bloß um nicht so schlecht dazustehen): Aber ich hatte gestern so viel zu arbeiten und war deshalb schon vorher müde. Sie: Du verwirklichst dich den ganzen Tag selbst, während ich mich um Kinder kümmern muss, das macht noch viel müder. Ich: Selbstverwirklichen macht auch sehr müde, das unterschätzt du. Sie, höhnisch lächelnd: Wollen wir tauschen?
So beginnt der Tag. Mein Schlafdefizit liegt derzeit bei 421 Stunden. Plus drei Prozent Zinsen macht das ein Guthaben von 433,63 Stunden. Das schreibe ich mir auf, denn ich will alles wiederhaben, wenn der kleine süße Fratz im Kinderstühlchen groß ist.
Im Laufe der Jahre kamen zum Schlafdefizit noch ein paar Hundert Stunden hinzu. Auf die Einlösung des Guthabens wartet Axel Hacke bis heute.
Der Text ist erstmals erschienen in „Der kleine Erziehungsberater“ (1991)