Hirnforschung und Psychologie

Geduldsprobe Pubertät

5. März 2018 – Text: Kristin Hüttmann
Jugend­liche können ätzend sein. Sie toben, testen Grenzen aus und rebellieren gegen die Eltern. Aber sie können nichts dafür. Schuld ist ihr Gehirn. 120 Milliarden Nervenzellen werden während der Pubertät miteinander verdrahtet, 100 Milliliter Blut fließen durch je 100 Gramm Hirnmasse (bei Erwachsenen 50 Milliliter). Ein Plädoyer für Verständnis in einer menschlichen Übergangszeit

Die 14-Jährige steht umringt von ihren drei Freundinnen auf der Straße. Die Augen sind aufgerissen, Panik steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie weint und telefoniert und stampft mit dem Fuß aufs Straßenpflaster. „Mama!“, schreit sie jetzt fast in ihr Smartphone, dann kippt ihre Stimme. „Ich bin für immer entstellt.“ Das Mädchen ist nicht etwa überfallen worden und hatte auch keinen Autounfall – es war gerade zum Augenbrauenzupfen in einer Beautylounge. „Die Kosmetikerin hat mir viel zu viele Haare rausgerissen, die Augenbrauen wachsen nie wieder nach …“ Verzweifelt schluchzt sie, während die Freundinnen ihr die Hände auf die Schultern legen und mit gesenkten Köpfen Mitgefühl demonstrieren.

Eine Szene, aufgegriffen in Hamburg-Eppendorf. Für einen Außenstehenden ist diese emotionale Talfahrt schwer nachzuvollziehen. Die Kosmetikerin hat an der rechten Braue drei Härchen zu viel ausgezupft? Na und? Doch Corinna Laube wundert sich über derlei Ausbrüche nicht. „Kinder werden in dieser Zeit extrem emotional“, sagt die Psychologin vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Mit dieser Zeit meint Laube die Pubertät – jene entscheidende Übergangsphase von der Kindheit zum Erwachsenenalter, die so viele Veränderungen für alle Beteiligten mit sich bringt.

Die Groß­hirn­rinde schrumpft und gewinnt so an Denk­effizienz

Es ist kein Spaß für den Rest der Familie, wenn Pubertierende Regeln ignorieren, einen Hang zu Risiken entwickeln und Drogen und Alkohol für sich entdecken. Außerdem chronisch schlecht gelaunt und unausgeglichen sind. „Vielleicht fällt es leichter, dieses unberechenbare Verhalten zu verstehen, wenn wir uns bewusst machen, was da gerade im Kopf passiert“, sagt Laube. „Das Gehirn von Kindern wird in dieser Zeit komplett umgebaut und leistet Schwerstarbeit.“ Einzelne Hirnareale wachsen, andere schrumpfen, Nervenverknüpfungen werden gekappt. Der kindliche Körper wird mit Hormonen überflutet. Biochemie mit unübersehbaren Folgen: Mädchen bekommen Brüste, Jungs breite Schultern und tiefe Stimmen.

Noch haben Wissenschaftler nicht bis ins letzte Detail verstanden, was in dieser Zeit im Körper passiert. Doch neue Erkenntnisse über den Hirnumbau liefern immer bessere Erklärungen für das jugendliche Verhalten. „Die wichtigsten Umbauphasen betreffen die Großhirnrinde, die in dieser Zeit noch mal wächst und dicker wird, bevor sie dann wieder schrumpft und dadurch an Denkeffizienz gewinnt“, sagt der Neurobiologe Henning Beck, der in zahlreichen Vorträgen, Büchern und Workshops Laien das Gehirn verständlich machen will. „Diese Dynamik des Hirnwachstums erklärt auch die unterschiedlichen pubertären Entwicklungen: Nicht jede Hirnregion reift gleich schnell, und innerhalb dieses Prozesses kann es deswegen zu Ungleichgewichten kommen.“ Anders ausgedrückt: Sie können nichts dafür, die Jugendlichen.

Radikale neuronale Aufräum­aktionen

Während in den ersten Jahren unseres Lebens das Gehirn rasant wächst und viel mehr neue Nervenverbindungen knüpft, als gebraucht werden, kommt es in der Pubertät zu einer radikalen Aufräumaktion. Häufig benutzte Nervenverknüpfungen bleiben bestehen, alle anderen werden gekappt. Durch eine neue isolierende Hülle steigt die Leitungsgeschwindigkeit in den Nerven auf etwa 360 Stundenkilometer. Ist dieser Prozess mit Anfang 20 abgeschlossen, hat das Gehirn seine größtmögliche Denkgeschwindigkeit erreicht. „Ein Grund übrigens, weshalb professionelle Computerspieler oft mit Anfang 20 ihren Leistungshöhepunkt erreichen, ab da sinkt die Reaktionsgeschwindigkeit wieder“, sagt Neurobiologe Beck. Die Denkgeschwindigkeit nimmt zu, dafür verlieren Jugendliche andere Fähigkeiten – professionelles Memoryspielen beispielsweise gehört der Kindheit an, wenn das Gehirn noch vorurteilsfrei Informationen verarbeiten kann. Und auch die Chance, eine zweite Muttersprache zu lernen, ist mit der Pubertät verpasst.

Durch all diese Umbauten scheint das Gehirn überhaupt erst die Voraussetzung dafür zu schaffen, was Experten als Hauptzweck der Pubertät ansehen: Die Kinder lösen sich vom elterlichen Kosmos und schaffen sich ihre eigene Welt. Eltern sollten daher nicht nur fassungslos danebenstehen, wenn sich aus ihren Engelchen quer gebürstete, tobende Wesen entwickeln. „Erwachsene sind dem biologischen Programm im Gehirn der Kinder nicht hilflos ausgeliefert“, sagt Bildungsforscherin Laube. Denn in welchem Ausmaß Pubertierende aggressiver, enthemmter oder triebgesteuerter sind, hänge immer auch von ihrem sozialen Umfeld ab. Insofern gilt also: Die Jugendlichen können nichts dafür. Die Erwachsenen schon. Ein bisschen zumindest.

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Geduldsprobe Pubertät Lebensphasen: Jan von Holleben

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