Der erste Wendepunkt

Explosion ins Leben

15. März 2018 – Text: Stephanie Struthmann
Ein Wende­punkt, den wir alle bereits hinter uns haben, ist die Geburt. Von der Natur gut vor­bereitet, ändert sich das Leben des Neu­geborenen radikal
Schock fürs Leben: Die Geburt ist für jeden Menschen der erst große Einschnitt. Bei der Durchtrennung der Nabelschnur ist das sogar wörtlich zu nehmen. Foto: Gallerystock

Der Umbruch, den ein Kind bei der Geburt erlebt, könnte kaum größer sein: eben noch im wohlig warmen Körper seiner Mutter, im Dunkeln, sanft schaukelnd, schwerelos im Fruchtwasser, gewiegt und gehalten in der Gebärmutter, rundum versorgt mit allem, was es benötigt. Und dann kommt die Explosion ins Nichts. Plötzlich findet sich der kleine Mensch in einer grell-hellen, kalten Welt wieder, die Nabelschnur zur Mutter wird durchtrennt, und das Neugeborene muss alleine atmen. Nach meiner Erfahrung gibt es auch vollkommen gesunde Kinder, die ohne einen Laut auf die Welt kommen. Ausgelöst durch den sogenannten Moro-Reflex, einem Schreck- und Streckreflex aufgrund von fehlender Umhüllung und Halt, schreit das Kind nach seiner Mutter. Noch über die Nabelschnur verbunden und versorgt, hat das Kind einen sanfteren Übergang zur Umstellung seines Kreislaufs wie auch für das Einsetzen der Atmung. Für die Stabilisierung der Atmung ist das wichtig: Frühchen beispielsweise müssen durchschnittlich eine Woche weniger lang beatmet werden, wenn erst 90 Sekunden nach der Geburt die Nabelschnur durchtrennt wird.

Jede Frau ist auf Schwangerschaft und Geburt von Natur aus bestens vorbereitet. Die Gebärmutter wächst von Ei- auf Basketballgröße, von 60 auf etwa 1.000 Gramm. Sie ist neun Monate lang die perfekt angepasste elastische Wohnung des Babys und bringt das Kind dann kraftvoll auf die Welt.

Raus aus dem eigenen Heim

Nur 1,3 Prozent der Neugeborenen in Deutschland erblickten im Jahr 2015 zu Hause oder im hebammengeleiteten Geburtshaus das Licht der Welt: Von insgesamt 740.362 waren es 9.562 Geburten. 730.800 fanden im Krankenhaus statt.

Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe: Geburtszahlen in Deutschland, www.quag.de/quag/geburtenzahlen.htm

Aus evolutionsbiologischer Sicht geht die Geburt – nach einer gegenseitigen Vorbereitungszeit – von der Mutter aus, denn es wäre zu gefährlich und nicht der Arterhaltung dienlich, wenn das Kind den Geburtszeitpunkt bestimmen könnte. Alle Säugetiere suchen den ruhigsten und sichersten Ort für die Geburt aus. Sie brauchen Schutz für sich und ihren Nachwuchs. Erst wenn sie die passende Stelle gefunden haben, ist es so weit. Beim Menschen ist das ganz ähnlich: Das ist übrigens einer der Gründe, warum Wehen in der Regel nachts beginnen.

Bei der Ankunft im Krankenhaus hören die Wehen oft auf – Ruhe und Entspannung sind dahin. Erst wenn sie zurückgewonnen sind, geht es weiter. Die wichtigste Aufgabe des werdenden Vaters und der Hebamme ist, dabei bestmögliche Dienste zu leisten: Der Vater wird zum Butler, die Hebamme zur Kammerzofe für die Königin, die Mutter. Für sie soll es so angenehm wie möglich sein. Wenn nichts mehr geht, kommt das Kind.

Auch wenn eine Geburt, die beim ersten Kind gut und gerne 15 Stunden dauern kann, Schwerstarbeit für den Körper ist, so kommt das Kind doch erst zur Welt, wenn die Mutter entspannt ist. Und das ist sie, wenn sie müde wird: Wenn sie sagt, sie kann nicht mehr, ist es häufig so weit. Und kurz danach kann sie das Neugeborene an sich nehmen – und ihr Kind hat den ersten Wendepunkt seines Lebens durchschritten, nimmt die bekannte Stimme der Mutter wahr und fühlt sich wieder ein Stück weit geborgen in der noch fremden Welt.

Über die Autorin: Stephanie Struthmann ist Hebamme und Diplom-Psychologin. Sie ist mit einem Künstler verheiratet, hat selbst zwei Töchter und eine Enkelin. Sie lebt und arbeitet in der Nähe des Ammersees und in München. In den vergangenen 25 Jahren hat sie mehr als 3.000 Geburten begleitet. Foto: Brauer Photos

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Lebensphasen Geburt: Gallerystock

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