Zufällige Zäsuren

Erstens kommt es anders …

11. März 2018 – Text: Matthias Oden
Offene Türen, mieses Wetter, schmutzige Wäsche – manchmal wird die Welt von ganz Un­schein­barem nach­haltig verändert. Sieben Bei­spiele von großen Zäsuren mit über­raschenden Ur­sachen
Waschen kann tödlich sein
Ende Januar 1959 hat Rock-Legende Buddy Holly die Schnauze voll: Die Logistik seiner „Winter Dance Party“-Tour ist eine Katastrophe: Nicht nur ist der Tourbus bei minus 30 Grad ungeheizt, ihm ist auch die saubere Wäsche ausgegangen. Also chartert er ein kleines Privatflugzeug, um am nächsten Auftrittsort Zeit genug zum Waschen zu haben. Mit ihm steigen am 3. Februar Ritchie Valens und The Big Bopper in die Maschine, die sie nach North Dakota bringen soll. Die drei Stars kommen nie an: Das Flugzeug stürzt im Schneesturm ab. Der Tag erlangt als „the day the music died“ traurige Berühmtheit – wegen ein paar Unterhosen.1
Der Letzte macht die Tür zu
53 Tage belagert Sultan Mehmed II. 1453 bereits Konstantinopel, als ihm der Zufall zu Hilfe kommt: Seine Truppen bemerken, dass vergessen wurde, ein kleines Festungstor zu schließen. Die Osmanen dringen durch die Pforte ein und hissen ihre Flaggen auf dem Mauerabschnitt – was zu einer Panik unter den Verteidigern führt. Und schließlich zum Fall der Stadt. Die Folgen: Das Byzantinische Reich geht unter, das der Osmanen blüht auf, islamisiert den Balkan und dringt bis nach Wien vor. Konstantinopel aber heißt fortan: Istanbul.2
Ein Todes- und ein Glücks­fall
Ende 1241 steht der mongolische Feldherr Batu Khan vor der Eroberung Europas: Die Goldene Horde hat bereits die Adria erreicht, und zwischen ihr und dem Atlantik gibt es nichts, was sie aufhalten könnte. Am 11. Dezember aber stirbt zu Hause Großkhan Ögedei – und Batu Khan muss zurück in die Mongolei, um dem Herrscher die letzte Ehre zu erweisen. Die Mongolen ziehen ab, Europa ist gerettet.3
Die Nacht zum Tage
Wer heute mitten in der Nacht aufwacht und plötzlich hellwach ist, hat nicht unbedingt eine Schlafstörung – sondern folgt einer jahrtausendealten Gewohnheit. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist es völlig üblich, dass man nachts noch einmal für ein paar Stunden aufsteht, im Kerzenschein Dinge erledigt und dann wieder schlafen geht. Erst die Verbreitung des elektrischen Lichts verschiebt diese Zeitspanne ans Tagesende, weil es, im Gegensatz zu Kerzen, tatsächlich den Tag verlängern kann. Das Nachsehen hat unser Biorhythmus. Bis heute.4
Kein Platz an der Sonne
Die Hexenverfolgungen sind ein Ergebnis religiösen Eifers? Nicht ganz. In erster Linie sind sie die Folge von – schlechtem Wetter. Während der sogenannten Kleinen Eiszeit (15. bis 19. Jh.) sinken die Durchschnittstemperaturen weltweit spürbar ab. Besonders heftig ist es zwischen 1570 und 1630: Die Sommer sind nasskalt, die Winter hart und lang. Missernte folgt auf Missernte. Nahrung wird knapp, Epidemien breiten sich aus. Genau in dieser Zeit erreicht die Hexenverfolgung in Europa manische Dimensionen – es braucht Schuldige für die endlose Misere. Und der Hexenglaube liefert sie. Abertausende sterben, weil der Sommer auf sich warten lässt.5
Nicht hilfreich, aber lecker
Eine nur langsam heilende Säbelwunde aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg macht den Apotheker John Pemberton morphinsüchtig. Um seine Abhängigkeit zu bekämpfen, beginnt er, nach einem Gegenmittel zu suchen, und hantiert mit allerlei Substanzen herum, auch mit Kokain und Wein. Schließlich aber lässt er den Alkohol weg, und weil Kohlensäure damals als gesund gilt, karbonisiert er sein Produkt. 1886 bringt er es auf den Markt. Er nennt es: Coca-Cola.6
Alle in einem Boot
In den 1930ern ist Andrew Higgins nur ein kleiner Werftbesitzer mit einer Vorliebe für Kraftausdrücke. Zehn Jahre später sorgt er dafür, dass Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg verlieren. Weil er ein Boot baut, das alles verändert: Es macht Häfen überflüssig. Im Bug hat es eine Rampe – und kann so Armeen direkt am Strand absetzen. Die Landung in der Normandie? Ohne Higgins nicht möglich. Auch nicht das Inselspringen im Pazifik. Hitler nennt ihn den „neuen Noah“, Eisenhower würdigt ihn als den Mann, „der für uns den Krieg gewonnen hat“. Und so verlustreich die Invasionen der Westalliierten auch waren: Das „Higgins-Boot“ rettet Tausenden das Leben, weil es überall schnelles Anlanden ermöglicht. Bis heute ist es das einzige Ausrüstungsstück der US-Streitkräfte, das den Namen seines Erfinders trägt.
Quellenangaben

1 Buddy Holly: Everitt, Falling Stars. Air Crashes that Filled Rock and Roll Heaven, 2004, S. 13f.; Denberg, Chantilly Lace and a Jolly Face, in: Texas Monthly, Januar 1988, S. 100–103; books.google.de

2 Konstantinopel: Millingen, Byzantine ­Constantinople: The walls of the city and adjoining historical sites, 1899, S. 90f.

3 Mongolensturm: http://www.zeit.de

4 Schlafrhythmus: Ekirch, Sleep We Have Lost: Pre-­Industrial Slumber in the British Isles, in: American Historical Review, Bd. CV, Nr. 2, April 2001, S. 343–387; www.academicroom.com

5 Hexenverfolgung: Behringer, Hexen und Hexen­­pro­­zesse in Deutschland, München 2006, S. 133f., S. 167f.

6 Coca Cola: Adams, Is This the Real Thing? Coca-Cola’s Secret Formula ,Discovered‘, in: Time 2011, newsfeed.time.com

7 Higgins-Boote: Strahan, Andrew Higgins and the Boats that Won World War II, 1998.

Bildquellen:

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Zäsuren: Gallerystock

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